Roberto
Calasso war ein italienischer Essayist und kulturphilosophischer
Schriftsteller, dessen wichtigste Werke in
viele europäische Sprachen übersetzt wurden. Er war ab 1971 der junge Leiter
des Verlages Adelphi Edizioni in
Mailand; als eines der ersten Projekte wurde die italienische Version der
von Giorgio Colli und
Mazzino Montinari erarbeiteten kritischen Edition der Werke Friedrich
Nietzsches in Angriff genommen. Für seine Verdienste um das Werk
Nietzsches in Italien wurde Calasso 1998
der Premio Nietzsche verliehen.
Vergangenen Mittwoch ist Roberto Calasso, zwei Monate nach seinem achtzigsten Geburtstag, in
Mailand gestorben. Unweit von Ezra Pound, Igor Strawinsky und Joseph Brodsky
ruht er künftig: Seine Asche wird auf der venezianischen Friedhofsinsel San
Michele beigesetzt werden. Als mich diese Nachricht erreichte, dachte ich: Da
ist eine Ära zu Ende gegangen, und ich trauerte ihr nach.
Ich verdanke Calasso
viel. Ich will nicht sagen: Alles. Aber fast. Es war sein Stil, in Details das
große Ganze abzubilden. Ich folgte ihm auf eine Schnitzeljagd, die eben in
diesen Details ausgelegt war und das große Ganze nie aussprach und festhielt,
sondern immer nur andeutete und offenhielt. Diese Offenheit, gepaart mit einer
geradezu obsessiven Gründlichkeit, faszinierte mich.
Calasso war ein großer Erzähler – nicht nur indem er
Großes erzählte, sondern wie er es erzählte: er verband das Große mit dem
Kleinen bis hin zum Kleinsten. Jedes Detail zählt in diesem Puzzlewerk. Jedes
Mal, wenn ich ein neues Buch von ihm aufschlug, war mir bewusst, dass mein
Beitrag darin bestehen würde, das Buch nicht nur zu lesen, sondern zu
verstehen, und nicht nur zu verstehen, sondern im Geiste zu eben jenem Großen
zusammenzufügen, das sich in jedem Detail verbarg.
Sein Buch Die Glut (2015) schlägt einen
weiten Bogen: Vor mehr als 3000 Jahren entwickelte sich in Indien eine so
rätselhafte wie faszinierende Kultur. Sie hinterließ keine Kunstwerke und keine
Ruinen, wir kennen nur ihren geistigen Kosmos. Die Schriften der Veden kreisen
in Hymnen, Mythen und Anweisungen für komplizierte Rituale um die einfache und
geheimnisvolle Tatsache, dass wir ein Bewusstsein haben. Dieses Bewusstsein
verbindet sich für die vedischen Seher mit einer "Glut", die im Geist
und in der Welt wirkt. So entstehen die Götter – und am Ende auch die Menschen.
Roberto Calasso führt durch die Labyrinthe der
vedischen Welt – und wenn wir sie wieder verlassen haben, sehen wir unsere
heutige säkulare Welt mit neuen Augen. (Klappentext)
Calasso schreibt darüber, wie in den Veden der
Opferkult bestimmend war: Damit von etwas Religiösem die Rede sein kann,
muss irgendeine Beziehung zum Unsichtbaren hergestellt werden. Man muss bereit
sein, Mächte anzuerkennen, die jenseits und außerhalb der sozialen Ordnung
liegen. Und die soziale Ordnung muss selbst bestrebt sein, irgendeine Beziehung
zum Unsichtbaren herzustellen.
In seinem Buch Das unnennbare Heute
(2019) ist es das erste Kapitel, das gesellschaftskritische Motive das an das
letzte Kapitel über den Opferkult aufnimmt und zuspitzt. Es steht unter dem
Titel: Touristen und Terroristen. Zugegeben: Der Zusammenhang ist nicht
gleich offenbar, er ergibt sich nach und nach. Das ist typisch für Calasso, der einen ganz eigenen Stil entwickelt hat, mit
dem er essayistisch leicht sein ungeheures, geradezu enzyklopädisches Wissen,
mit Hinweisen auf den Ursprung der Zitate in den zahlreichen Fußnoten versehen,
in ein lockeres Textgewebe einzubinden weiß. Es sind Bücher, die man nicht in
einem durchlesen kann. Ich habe mir angewöhnt, solche Bücher gleich einem
Orakel irgendwo aufzuschlagen und mich vom Reiz geschliffener Formulierungen
anziehen zu lassen.
Also: Das „Heute“ ist eine Zeit, die den homo
saecularis hervorgebracht und damit seinen
leidenschaftlichen Gegner, den religiösen Fundamentalisten, der zum Terroristen
wird, allen voran den Islamisten, auf die Weltbühne gerufen hat. So erklärt sich
der Titel „Touristen und Terroristen“. Das Heute als Danach (nach den Zeiten
ungebrochener Religiosität und religiös gerechtfertigter Autorität) bezieht
sich auf die Problematik, die sich durch die Säkularisierung des Westens und
einen materialistischen Konsumismus (Tourismus) ergibt und den Alltag bestimmt.
Ausdruck für das „Heute“ ist eine
typische Inkonsistenz: In keinem seiner einzelnen Teile zu greifen, ist es das
Gegenteil der Welt, die Hegel in die Klammer des Begriffs nehmen wollte. Calasso zitiert
Malebranche: Es gibt nichts Formloseres als die Substanz der Geister, wenn
man sie von Gott trennt.
Das präziseste und akuteste Gefühl für
einen Zeitgenossen ist, dass er nicht weiß, wohin er jeden Tag den Fuß setzt.
Das Terrain bröckelt, die Linien verdoppeln sich, die Gewebe zerfransen, die
Perspektiven schwanken. Dann spürt man noch deutlicher, dass man sich im
„unnennbaren Heute“ befindet. Hinein
drängt sich die Thematik des Opferkults und der damit verbundenen Riten, was
wiederum in Verbindung gebracht wird mit dem islamischen Terrorismus, denn
Grundlage des Terrors ist die Idee, dass nur der Tötung eine sichere Bedeutung
zugesprochen werden kann. Wie das? Die Idee der Tötung, durch die eine sichere
Bedeutung erzielt wird, hängt mit der Opferpraktik zusammen: Wie jede
Opferpraktik beruht der islamische Terrorismus auf der „Bedeutung“. Und diese
Bedeutung ist verknüpft mit anderen Bedeutungen, die alle auf dasselbe Motiv
hinauslaufen: den Hass auf die säkularisierte Gesellschaft. So hat der Terrorismus
die Aufgabe übernommen, durch vereinzelte, ubiquitäre, chronische, immer
zufälligere Tötungen das Opferfeuer zu erhalten.
Das „Heute“ als Zustand ist das Ergebnis
der Säkularisierung, eines fortwährenden Verweltlichungsprozesses, in dem
Religion von Ersatzreligionen abgelöst wird und die Zivilisation, nach
Abschaffung jeglicher Art der Transzendenz, an der Immanenz des Weltlichen zu
ersticken droht. Die säkulare Gesellschaft ist, ohne es proklamieren zu müssen,
zum letzten Bezugsrahmen für jede Bedeutung geworden, fast als ob ihre Form der
Physiologie einer jeden Gemeinschaft entspräche und Bedeutung nur innerhalb der
Gesellschaft selbst zu finden wäre.
(S.23)
Die gesellschaftlichen Konflikte haben
nicht länger etwas zum Gegenstand, was sich außerhalb und oberhalb befindet,
sondern die Gesellschaft selbst, die vor allem eine ausgedehnte Oberfläche ist,
die zum Eingreifen auffordert, ein Laboratorium, wo entgegengesetzte Kräfte
sich wechselseitig die Leitung der Experimente zu entreißen suchen. (S.27)
Ohne den Schauer des Numinosen fehlt der
Gesellschaft der Lebenswille...Es ist, als hätte die Einbildungskraft, nach
Jahrtausenden, auf ihre Fähigkeit verzichtet, über die Gesellschaft
hinauszublicken und etwas zu suchen, was innerhalb der Gesellschaft Bedeutung
verleiht. (S.24)
Calasso identifiziert das säkulare Denken
als Ergebnis eines Entleerungsprozesses:
Der Säkularismus
definiert sich negativ, indem er das Göttliche, das Heilige, die Götter oder
den einen Gott ignoriert und aus sich ausschließt. Ist all dies erst einmal
beseitigt, hat der Säkularismus Platz für alles.
Was ist schon Identität, wenn nicht eine flüchtige
Erscheinung? Calasso erzählt davon, wie Identität
sich allmählich heraushebt aus dem großen Fluss der Formen. Es gab eine
Epoche, in der man, wenn verschiedene Lebewesen aufeinandertrafen, nicht genau
wusste, ob es sich um Tiere oder Götter, Dämonen oder Ahnen handelte. Oder
einfach um Menschen. Eines Tages, der viele tausend Jahre dauerte, machte Homo
etwas, das noch keiner versucht hatte: Er begann die Tiere nachzuahmen, die ihn
jagten, die Raubtiere. Er wurde zum Jäger. Es war ein langer und schwieriger
Prozess, der Spuren und Narben in Riten und Mythen und im Verhalten hinterließ.
Zahlreiche Kulturen, räumlich und zeitlich
weit voneinander entfernt, brachten einige dieser dramatischen, erotischen
Geschehnisse in Verbindung mit der Himmelsregion zwischen Sirius und Orion: dem
Ort des Himmlischen Jägers. Dessen Geschichten, in dieses Buch
hineingeflochten, greifen in viele Richtungen aus, reichen vom Paläolithikum
über Ägypten und das alte Griechenland bis zur Turingmaschine. Sie erkunden die
verborgenen Verbindungen innerhalb dieses einen, nicht einzugrenzenden
Territoriums, das der Geist ist. (Klappentext Der himmlische Jäger 2020)
Es gab eine Zeit, so erzählt Calasso, wie es ein Schamane nacherzählte, in der die Toten
und die Wölfe eins waren. Nur noch Mensch und nur noch Wolf zu sein, ist ein
Unglück. Die Wölfe, die einst Menschen waren, sind verzweifelt und laufen
allein in den Wäldern herum auf der Suche nach Menschen. Die Menschen aber, die
Wölfe sein wollen, setzen sich Masken auf, um wenigstens auszusehen wie Wölfe.
Das Buch der Bücher:
Neunhundertvierundsiebzig Generationen bevor die Welt geschaffen wurde, gab es
die Torah. Sie wurde mit schwarzem Feuer auf weißes Feuer geschrieben, erzählt Calasso in „Das Buch der Bücher“ (2020).
Es gibt zwei Arten, sie zu lesen. Man kann sie Wort für Wort lesen oder aber
als Kontinuum.
Roberto Calassos
Nacherzählungen von den Gemetzeln, in denen Götter Götter
besiegen, von Heldenliedern, die das Abschlachten ganzer Völker feiern, sind
immer beides. Sie nähren den Schrecken und sie helfen, ihn zu überleben.
Calasso zitiert den indischen Herrscher Ashoka,
der im zweiten vorchristlichen Jahrhundert in Felswände einmeißeln ließ: Er
habe mit seinen Eroberungen Massaker und große Verbrechen begangen. Er werde das
nicht mehr tun. In Zukunft werde er dem Dharma folgen, also der Güte, der
Großzügigkeit, der Wahrheit und der Reinheit. Er werde das Gute fördern und
milde sein. Dieser zweite Ashoka war das Ergebnis des
ersten und niemand weiß, wie der dritte Ashoka gewesen
wäre.
„Schicksalstafel“ heißt ein Buch, das Calasso 2020 veröffentlichte. Es erzählt von der
babylonischen Sintflut, von Sindbad dem Seefahrer, und es endet – ein wenig
verkürzt – so: „Alle Götter, die Du antreffen wirst, überall auf der Welt,
wurden alle aus derselben Substanz geschaffen. Ein einziger, riesiger
leuchtender, rotierender Strang, von dem immerfort Stränge sich lösen, die
wiederum kleine leuchtende Stränge hinter sich lassen. Das ist das Leben der
Götter – sagte Utnapishtim... .“
– „Ich bin schon seit so vielen Jahren hier und kenne die Antworten nicht. Ich
habe mir abgewöhnt, nach Antworten zu fragen. Ea hat
mir keine Weisheit gegeben, dafür aber das ewige Leben. Die Weisen, die ab und
zu bei mir vorbeikommen, haben sie Antworten? Ich bezweifle das. Vielleicht
denken sie, die Welt ist nicht geschaffen, um Antworten zu geben.“ Utnapishtim zu Sindbad: „Ich weiß, dass Du abreisen wirst.
So hast Du es immer gemacht. Auch ich werde tun, was ich immer getan habe: am
Leben bleiben.“
Zurück zu
einem Anfang, der im Dunkeln liegt, und aus dem das menschliche Bewusstsein
hervorging. Die Veden zeigen das Bild einer Welt, die nur aus dem Religiösen
besteht. Für die vedischen Ritualisten durchdringt
das Religiöse jede Handlung. Warum aber sollte die ganze Welt eine
Opferwerkstatt sein? Einfach weil sie – in all ihren Teilen – auf einem
Austausch von Energien beruht: von außen nach innen und von innen nach außen.
Das ist es, was mit jedem Atemzug geschieht. (Die Glut, S. 16)
Marken
und Mythen: Die gegenwärtige Welt, eben das unnennbare, weil
säkularisierte „Heute“ ist übersät mit Marken, deren Ehrgeiz es ist, Mythen
zu werden. (Das unnennbare Heute)
Eine weitere Alliteration: Dada und Data. Big Data.
In genau einem Jahrhundert ist man vom Dadaismus zum Dataismus,
vom Dada zu Big Data gelangt. Und manch einer behauptet,dass Big Data Sapiens verdrängen und wie
einen Zwei im majestätischen Strom der Informatik hinwegschwemmen wird. Dann
werden wir fast alles wissen, an dessen Kenntnis uns nichts liegt. Während
weitere Algorithmen sicher davon profitieren werden. Der höchste Wert
dieser neuen Religion ist der Informationsfluss.
An diesem
Punkt wird sich Homo saecularis mit seinen edlen
humanistischen Werten obsolet vorkommen wie eine Begine aus alten Zeiten.
Es folgt
ein Exkurs, Harari folgend, über den Humanismus in
Zeiten des Dataismus: Die Humanisten dachten, dass
die Erfahrungen in uns stattfinden, dass die Bedeutung all dessen, was
geschieht, in uns selbst liegt und dass wir mit ihr dem Universum Bedeutung
einflößen. Die Dataisten glauben, dass die
Erfahrungen wertlos sind, wenn sie nicht geteilt werden, und dass es unnötig –
ja unmöglich – ist, in uns selbst Bedeutung zu finden. Wir müssen unsere
Erfahrungen nur aufzeichnen und mit dem großen Datenstrom verbinden, dann
werden die Algorithmen ihre Bedeutung entdecken und uns sagen, was zu tun ist. (Harari, Homo Deus, zitiert in Das unnennbare
Heute S. 95)
Von
diesem Endpunkt aus rückwärts gelesen lässt sich das Buch über das unnennbare
Heute wie eine Einleitung zu dem nächsten Kapitel der Bewusstseinsgeschichte
lesen. Welches Buch wird folgen, wenn überhaupt?
Wenn die Intelligenz von Algorithmen absorbiert wurde, die kein Bewusstsein
besitzen, aber effektiver funktionieren als der Geist – kurze Beschreibung der
informatischen Revolution - dann kann
man sich leicht vorstellen, dass als nächster Schritt dem Bewusstsein etwas
Ähnliches widerfährt. (Harari zitiert bei Calasso) Calasso jedoch setzt auf
das Bewusstsein: Dennoch sind wir überzeugt, dass das Bewusstsein eine
Entität ist, die sich bei der gesamten Menschheit findet...Das Bewusstsein ist
die unsichtbare Schranke, an der die Information abprallt…
Touristen,
Terroristen: allgegenwärtige Kategorien des Interesses…Der Tourist will es vor
allem bequem haben und sich gegen das wappnen, was an dem fremden Ort, den er
besucht, auf ihn eindringt...Die Kolonialreiche sind verschwunden, geblieben
aber ist ein tiefes Gefühl der Fremdheit, auch Feindschaft, dem gegenüber, was
eine Anziehungskraft ausübt...Die Klammer, die Touristen und Terroristen
verbindet, ist im Säkularismus zu finden: der Hauptfeind des islamischen
Terrorismus ist die säkulare Welt, vorzüglich in den Formen ihres
Gemeinschaftslebens: Tourismus, Veranstaltungen, Ämter, Museen, Gaststätten, große
Warenhäuser, Verkehrsmittel. In diesen Fällen besteht der Ertrag des Opfers
nicht nur in einer Vielzahl von Toten, sondern ihm wird eine größere Resonanz
zuteil...Die Grundlage des Terrors ist die Idee, dass nur der Tötung eine
sichere Bedeutung zugesprochen wird.
Der
Inkonsistenz der zersplitterten Welt des unnennbaren Heute
steht sowohl das Bedürfnis als auch das Streben nach Bedeutung entgegen,
die durch die rituellen Tötung im Selbstmordattentat erreicht wird: Alles
Übrige erscheint labil, ungewiss, unzureichend. Mit diesem Fundament verbinden
sich dann die verschiedenen Motivationen, die dazu dienen, sich zur Tat zu
bekennen. Und mit diesem Fundament ist auch, auf eine obskure, nur metaphysisch
zu begründende Weise, das Blutopfer verknüpft. Als ob sich,
von Epoche zu Epoche und an den verschiedensten Orten, ein ununterdrückbares
Bedürfnis nach Tötung geltend machte, selbst wenn sie unbegründet und unsinnig
scheinen. Gerade dann, ist der Leser geneigt zu sich selbst zu sagen,
gerade dann, wenn sie unbegründet und unsinnig scheinen.
So
schließt sich der Kreis und der Text macht Sinn. Trotz aller Inkonsistenzen und
Sprünge, gerade dann!